Freitag, 4. Februar 2022


Das Ereignis, das den zeitlichen Ablauf meines Freitags sehr verändert hatte, fand schon Donnerstag Abend statt.

Ich betrat ein Geschäft. Beim eiligen Anbringen des MundNasenschutzes fiel die Brille auf den Boden, wie schon so oft, aber diesmal brach das Mittelstück und ich blickte verzweifelt auf zwei Brillenhälften. Ich wurde wütend, beruhigte mich, kaufte Superkleber und tatsächlich hält es bis jetzt. Der Bruch der Brille erinnerte mich daran, dass es längst Zeit wäre, eine neue zu beschaffen.

Freitag Früh fuhr ich mit dem Rad zu einem wichtigen beruflichen Termin im vierten Bezirk. Ich dachte daran, dass heute Wolfgang Berry mit einer Begräbnisfeier geehrt werden sollte, und uns hatte das Spielen in einer Rockfunkpopband verbunden. Wolfgang war mir immer freundlich und unterstützend begegnet. Vor so etwa vierzig Jahren hatten sich unsere Wege getrennt. Manche Bandmitglieder wurden professionelle Musiker, wie zum Beispiel Wolfgang, ich nicht. In den letzten Jahrzehnten hatten wir uns drei Mal gesehen. Freunde von mir hatten in den letzten Jahren bei Wolfgang Gesangsunterricht genommen, und einmal habe ich ihn bei der protestantischen Kirche am Gürtel kurz gesehen.

Die Totenfeier sollte in einer Kapelle des Stifts Klosterneuburg stattfinden. Dorthin, behauptete Google Maps, würde ich 35 Minuten brauchen, mit dem Rad, von meiner Wohnung im 20. Bezirk als Startpunkt. Der Termin im vierten Bezirk war um halb zwölf gut erledigt, und beim Zurückfahren in den Zwanzigsten fiel mir ein, dass mein Optiker an dieser Strecke ordinierte und kurzerhand blieb ich vor seinem Geschäft stehen. Ich brauchte die neue Brille möglichst rasch, Superkleber hin oder her. Es würde sich knapp ausgehen, es war ein paar Minuten nach zwölf.

Der Optiker war ein Jahr jünger als ich und besprach des langen und breiten gemütlich die verschiedenen Gläser und Preise, nachdem wir recht rasch eine passende Fassung gefunden hatten. Er sprach gern. Wir fanden überraschend viele Themen. Langsam begann die Uhr in meinem Kopf zu ticken, ich wollte bis 14 Uhr in Klosterneuburg sein. Endlich entließ mich der Optiker.

Nach einem kurzen Zwischenstopp zu Hause brach ich Richtung Klosterneuburg auf, vielleicht 15 Kilometer, die Donau entlang. Eine schöne Strecke. Nur der Wind blies stärker, mir ins Gesicht. Es hat wenig Sinn, sich gegen den Wind anzustrengen, aber die Uhr im Kopf tickte. Ich stellte mir die Trauergemeinde vor, Leute, die ich schon Jahrzehnte nicht gesehen hatte. Größen der österreichischen Musikszene, es wären, dachte ich, auch viele Leute bei der Feierlichkeit, die Wolfgang vielleicht in Wirklichkeit gar nicht so gut gekannt hatten, immerhin haben wir uns vier, fünf Jahre zeitweise tagtäglich gesehen, wir alle richtig mitten drin in einer mehr oder weniger stürmischen Jugend. Der Radweg, zuerst noch annehmbar, führte mich nach einer Bahnschranke hinter Nussdorf über eine Metallbrücke auf einen langen Schotterweg mit vielen Löchern und Regenrinnen. Links ein Damm, rechts die sanfte Hügellandschaft auf der anderen Seite der Donau, für die ich, angetrieben vom Ticken der Uhr und der Peinlichkeit, zu spät zu kommen, keinen Blick hatte. Der Schotterweg wurde länger und länger, die Donau ist breit und sehr lang, kein Vergleich mit dem so berühmten, schwer überschätzten Rhein, dachte ich und strampelte, nachdem ich an dem wenig originellen Gebäude der Kunstsammlung Essel vorbeigefahren war, immer den Wind im Gesicht, durch einen endlos scheinenden Park, eine Au, bis es endlich nach links Richtung Stift Klosterneuburg ging. Plötzlich Verkehr, Autos, der Radweg wurde unterbrochen. Jetzt musste ich mein Gefährt schieben, auf einem Gehsteig zwischen einem Hotel mit Gasthaus und Parkplätzen ging ich noch ein Stück recht vorsichtig mich umblickend und fuhr dann eine gepflasterte, steile Strasse langsam im ersten Gang auf den Platz vor dem Stiftseingang, der wohl eine Art Hauptplatz darstellen sollte. Kein Mensch begegnete mir. Irgendwo hörte ich ein Auto fahren. Wo waren die Menschen, fragte ich mich. Die Geschäfte, die Bäckereien und Cafés- alles vermittelte mir den Eindruck, geschlossen zu sein. Das Wetter war freundlich, jetzt hatte sich der Wind beruhigt, merkte ich und schob das Rad in den großen Hof des Stifts. Auf einem Plan hatte ich gesehen, wo die Sebastianikapelle wäre, jedoch ich genierte mich wegen meines verschwitzten Aussehens und der Verspätung. Ich schalt mich, überhaupt losgefahren zu sein. Ich fürchtete mich davor, Bekannte zu treffen und wanderte in dem weitläufigen Park herum, vorsichtig drauf bedacht, keinen Menschen zu treffen und verließ das Klosterareal.

In den Straßen vor den oft schönen, alten zweistöckigen Bürgerhäusern bewegte sich kaum etwas. Die Gasthäuser schienen in einem Zwischenstadium zwischen „geöffnet“ und „geschlossen“ zu sein. Oft war es dunkel darin, oder es leuchtete nur eine kleine Lampe.