Praterstern


Hinter einer schmutzigen Glasscheibe steckten eng aneinander Hühner auf einem Spieß und wurden gebraten. Der Saft tropfte auf Blech. An einem schmalen brusthohen Tisch standen aneinandergereiht Menschen, die aßen und tranken. Ihnen gegenüber erfüllte die Chefin Wünsche der Kunden. Die über den Augen gemalten Augenbrauen verschoben sich während jedes gesprochenen Satzes missbilligend und herablassend nach oben. Das gepuderte Gesicht schwebte halslos über dem weißen Arbeitsmantel. Die Ohrringe, das weißblonde Haar, die goldenen Glieder einer schweren Kette, die unter dem Kinn das Gesicht vor dem Arbeitsgewand schützte, umkreisten es.

Der feiste Körper verrichtete ruhig seine Arbeit. Die Frau bewegte sich rasch und sicher. Unsichtbar unter dem weißen Stoff des Arbeitsmantels gingen ihre Beine kleine Schritte. Sie hielt ein Langos in die Fritteuse. Die Geflügelschere zerschnitt ein Huhn. Sie wischte sich das Fett mit einem Handtuch, das immer irgendwo dalag, ab. Mit einer Zange holte sie das Langos aus dem Fett. Es tropfte ab. Während des Salzens fragte sie, ob Knoblauch gewünscht sei. In einer weißen Plastikschachtel lehnte ein breiter Pinsel. Sie lackierte das Gebäck mit Sauce. Ihr Kopf rechnete. Abermals wischte sie die Hände ab. Sie griff in den Arbeitsmantel, um die schwarze Geldbörse herauszuholen. Sorgsam nahm sie zügig den Geldschein in Empfang. Sie schob ihn in ein bestimmtes Fach ihrer Geldtasche. Dann sah sie mich.

„Ja, was wollen Sie denn?“

Ich wusste es nicht. Sie sagte: „Ein halbes Henderl vielleicht? Mit Salat und Pommes-Frites?“

In einer Reihe standen da hinter Glas Schüssseln. Sellerie-, Erdäpfel-, Rote Rüben- und Karottensalat. Ich wählte letzteren.

Da lag ein federnloser gebratener Vogel ohne Kopf auf einem Brett. Die Schere halbierte ihn. Plötzlich lag gebratenes Fleisch auf dem Teller. Er hatte zwei Kammern. In der kleineren leuchteten Karottenfäden.

Die Haut barg den Geschmack. Es kostete Mühe, das Bein abzuschneiden. Die Tischplatte war glatt und hellgrün. Das Mineralwasser perlte. Ob ich mir ein Glas geben lassen sollte? Hier war es nicht die Mühe wert.

Ich stand mit dem Rücken zum Raum und suchte Einkehr. Über uns Essenden rauschten leise Züge. Draußen, vor dem Eingang zur Hendlbude, fuhren die Räder der Straßenbahnen auf Schienen, die ihrer Last quietschend Widerstand und Halt boten. Auf dem von den Schnellbahnschienen überdachten Platz strebten Menschenströme zu Strassenbahnhaltestellen. Ein Bub heulte. Die Mutter hielt ein kleines Mädchen an der Hand. Sie verabreichte dem heulenden zwei Ohrfeigen und zerrte die Kinder weiter. In der Schnellimbissstube herrschte ewige Dämmerung. Das elektrische Licht verlieh dem Braun der Wandfliesen Heimeligkeit. Darunter dämmerte die Dunkelheit eines Hungers. Ich spürte im Rücken Geschehen und legte die Hände links und rechts neben den Teller. Auch andere beobachteten, um allein zu sein, die Wand. Die Geräusche, vor allem Stimmen, rumorten konzentriert um die Verkaufstheke.

Die an der Wand Aufgereihten schmatzten, aßen schnell und sprachen mit vollem Mund. Sie hatten keine Zeit, um alles nacheinander zu erledigen. Hier arbeitete ein großer Magen. Rund um die Uhr. Das Stillen des Hungers und Dursts löste Wohlbefinden aus. Die Münder und Bäuche arbeiteten zusammen. Sie regten einander an. Ich empfand diesen Strudel als ordinär. Der Karottensalat war eine Konserve. Zwei Schüler kauften Schnitzelsemmeln zum Mitnehmen. Nach den ersten paar Bissen, als das Schlucken nicht mehr so laut zu hören war, hielt ich inne. Ich löste den Blick von den Wandfliesen. Ich fiel durch nichts auf.

Der Mann neben mir leerte in einem Zug sein Bierglas. Beim Hinausgehen sagte er Wiederschaun. Zwei andere neben ihm aßen sehr schnell. Ihre fetten Leiber steckten in blauen Arbeitsanzügen. Sie sprachen burgenländischen Dialekt. Die Köpfe und entblößten Arme waren braungebrannt.

„Nein, ich habe keinen Bauch. Im Urlaub bin ich jeden Tag im Meer geschwommen.“ Er öffnete die Arbeitsbluse. Seine Brust war weiß. Die braune Hand klopfte darauf. Die Haut war gut gewürzt und knusprig. Der Kollege antwortete: „Ein Mann ohne Bauch ist wie der Himmel ohne Stern`.“ Die Burgenländer lachten. Sie sprachen eine schwer verständliche Sprache. Sie rollten diese und durchsetzten sie mit vielen „is“. Einer hatte in Gran Canaria ein Goidketterl gekauft.

Ein Paar erschien. Die Frau trug prall gefüllte Plastiktaschen. Der Mann frisierte seine Stirnlocke. Er steckte den Kamm in die Gesäßtasche der Hose. Er stoppte den Schwung seiner Ankunft, stützte sich auf die Glasscheibe der Theke. Sofort sah die Chefin nicht nur die unmittelbar darunter aufgetürmten, sauber in Servietten gewickelten Speckweckerl in ihrer Verkaufstheke gefährdet. Auch ihre Lebensruhe wollte sie gewahrt wissen. Scharf wies sie den Mann zurecht.

Den Blähbauch seiner Begleiterin trugen ausgezehrte Beine. Erleichtert stellte sie ihre Last auf dem Boden ab. Sie stützte die Ellbogen auf die Tischplatte. Sie legte das Gesicht in die Handflächen. Sie trug einen dunkelgrünen Pullover. Es war heiß hier. Alles briet. Es war Sommer. Der Rock war violett- golden gemustert. Die geschwollenen Füße steckten nackt in hellblauen Plastikpantoffeln. Der Mann brachte zwei Viertel Weißwein. Ich begann, ausgedünsteten Alkohol zu riechen. Der Mann stieß mit seinem Glas an ihres, das neben den Ellbogen stand. Er sprach mit deutschem Akzent.

„Nun denn, Pröstchen. Es gibt keine Liebe mehr, keine Liebe mehr.“ Er hielt sich an der Tischkante fest. Der Oberkörper pendelte. Er sprach zu sich. Ich musste ihn ansehen. Die Frau sagte: „Na geh, die Liebe, die Liebe. Die heisst nichts.“ Die Stimme des Mannes kam jetzt aus einer anderen Ecke und ebenso aus Wien wie ihre. „No, i waß, die Liab is gstuabn.“ „Vom Notstand kann ich nicht leben. Hörst? Wenn ich nicht putzen ginge, wäre der Ofen aus. Das sollen mir die Herrschaften vorhupfen, wie man von dem Geld leben soll.“ Er flüchtete nach Deutschland. „Nee, es gibt keine Liebe mehr. Aus. Vorbei. Es geht immer nur um das doofe Geld. Du, ich möchte mich heute duschen.“ „Wenn ich nicht putzen ginge, hätten wir gar nichts.“ Die dünnen Lippen bissen den Wein, dessen Säure ich beim Anblick dieser Frau jetzt selbst im Magen spürte. Die Burgenländer gingen.

„Ich muss mich waschen, nicht? Und rasieren, ein bisschen pflegen eben.“ „Wie sie sich das vorstellen, diese Leute. Mein Fuß ist verkrüppelt. Was mach ich? Putzen. Und Du? Was machst Du? Du liegst mir auf der Tasche. Liebe! Liebe hin und her…es gibt keine Liebe mehr. Glaubst, ich wünsch mir nicht auch den großen Papi, an den ich mich anlehnen kann und der mir Geld zusteckt?“
Ich staunte. Leise und abgekämpft sagte die Frau ihre Sätze der Wand der Hendlbude. Sie klagte. Sie erwartete Erbarmen. Ihre Augen starrten groß. Ein Traum sprach aus ihr. Der Mann trampelte alles nieder. Ihre Nase war spitz und blass.
„Du kannst dir einen anderen Platz suchen für deine Hygiene!“

Der Mann trank schnell sein Glas aus. Er schrie: „Frau Chefin! Zwei doppelte Rum!“

Er beugte sich vor. „Mit meinem letzten Geld lad ich dich jetzt ein auf die Getränke!“
„Weißt du, was das kostet, du und deine Wascherei?“ „Keine Liebe mehr, keine Liebe mehr. Immer nur das doofe Geld. Du kannst ja anrufen, am Magistrat, beim Gaswerk, und nachfragen, nicht?, was das kostet, einmal duschen. Ne Mark Fuffzich, an Zeena villeicht.“ Er nahm das Kinn der Frau in seine Hand. Er zwang ihren Kopf, ihn anzusehen. Die blasse Haut seiner Hand bedeckte eine Schicht hellgrauen Drecks.

„Wie, glaubst du, soll ich leben können? Gestern Nacht hast du das Putzgeld an dich genommen. Bestohlen hast du mich.“ Der Versuch der Stimme, Lautstärke zu gewinnen, wurde von der Hand des Mannes deformiert. Ich aß schnell. Das Brustfleisch war trocken.
„Es woan nua Zwahundertschüülling.“
„Ich weiß, dass du in meine Taschen gehst. Der Rest ist schon auf der Post.“

Er ließ sie los. Sie trat einen Schritt zurück.

„Du kannst dir eine andere Badewanne suchen.“

Der Mann hob eine ihrer auf dem Boden stehenden Plastiktaschen hoch. Er drehte sie um. Flaschen zerbarsten. Gläser krachten. Flüssigkeiten entwichen. Der Gurkenessig mischte sich mit dem Rum und dem Rotwein.

„Schade um die Getränke, nich?“

Meine Hose und Schuhe waren beschmutzt. Wir standen zu dritt in einer Lacke. Um ein großes, in Plastikfolie geschweißtes Stück Extrawurst lagen Gurken. Der Mann trat auf das bisher unzerstörte Viertelkilopaket Kaffee und den Sirius- Camembert. Die Frau heulte die Wand an. Die Imbissbudenbesitzerin kam hinter ihrem Verschlag hervor.

„Ich gehe schon. Ich gehe schon.“ Er lief an erstaunten Gästen vorbei hinaus.

„So eine Schweinerei! Jetzt kann ich auch noch putzen!“ schrie ihm die Chefin nach. Die Zurückgebliebene hob heulend die Tasche auf. Sie packte ein, wobei sie alles durcheinander in den Plastiksack warf. Trotz der ständig wiederholten Aufforderung der Chefin ließ sie von ihrem lauten, tränenlosen Geheule nicht ab. Die anderen Gäste standen auf ihren Plätzen. Manche grinsten. Ich wischte mir mit dem Taschentuch die Schuhe und die Hose ab und fasste den Ausgang ins Auge. Niemand, auch die Chefin, die mit einem um einen Besen gewickelten feuchten Ausreibfetzen den Boden säuberte, beachtete mich.