Der Eiserne Vorhang


Nach zwanzig Stunden im Autobus von Prag nach Lemberg/ Lvov/ Lviv steige ich mit zwei Reisegefährten vor dem Hauptbahnhof aus. Das Gebäude wirkt vertraut, es ist vier Uhr früh im November, wenige Lichter in der Nacht. Die Reisegefährten helfen mir, im dunklen Bahnhof den Weg zur Wechselstube zu finden und die Bahnkarte nach Poltava zu kaufen. Wir sprechen Tschechisch. Die Herren kommen aus der Gegend um Lemberg. Sie haben in Prag gearbeitet. „Sie fahren tatsächlich nach Poltava?“ Sie grinsen und verabschieden sich.

In der dunklen Wartehalle hocken an die Wände gelehnt Menschen, zumeist in dunkle Mäntel gehüllt, Mützen auf den Köpfen, Kopftücher, eingesunkene Gestalten, die am Boden sitzen und warten. Niemand isst, spricht oder liest. Niemand rennt herum, kein Kind lacht oder weint. Nur manchmal das Geräusch einer kleinen Bewegung.
Eine mächtige Frau unbestimmbaren Alters sitzt im scharf abgegrenzten Lichtkegel einer Schreibtischlampe. Sie thront über einem Berg von Obst, Flaschen, Halvablöcken und Tüten mit Sonnenblumenkernen.
Die mächtige, in ihren schwarzen Mantel gepackte Frau spricht mich an. Sie klingt freundlich und energisch. Ihr Gesicht ist rund, ihre Lippen rot geschminkt. Poltava, wiederholt sie ungläubig. Ich kaufe drei Flaschen Bier, sitze auf meiner Reisetasche und katapultiere mit dem Feuerzeug die Kappe von der Flasche. Ich trinke und betrachte erschrocken die reglos wartenden: Ihre Ruhe scheint das Ergebnis einer Erschöpfung.
Gegen halb sechs stehe ich in einem kalten, blauen Licht unter der verfallenden Überdachung der Bahnsteige. Ich weiß, dass die Züge hier breiter sind und glaube, das auch zu sehen. Alles ist alt. Ich frage mich, ob die Leute, die langsam nach und nach erscheinen, die selben sind, die so schicksalsergeben in der Wartehalle gehockt sind. Die Gesellschaft findet sich munter auf dem Bahnsteig ein. Beige Sakkos, dünne Pullover und dunkle Mäntel oder Lederjacken. Omas und ihre Enkelkinder. Vollgepackte chinesische Reisetaschen. Der Schaffner trägt eine dunkelblaue Uniform. Unwirsch kontrolliert er Fahrkarte und Pass. Er lässt sich mein Visum zeigen.
Im Inneren des Waggons zeigt mir eine Zugbegleiterin meinen Platz: Alle Reisenden bekommen Liegepritschen zugewiesen, die in zwei Etagen übereinander angeordnet sind. Sofort beginnen Verhandlungen der Mütter und Großmütter mit anderen Reisenden, um die unteren Betten für die kleinen Kinder zu ergattern. Unter den Betten gibt es einen Stauraum für Gepäck und über der oberen Liege sind Netze gespannt, sodass das Gepäck sicher untergebracht werden kann.
Im Waggon ist es sehr warm. Neben dem Abteil des Zugpersonals liegt eine russige Kammer, in der ein Ofen mit Kohle befeuert wird. So wird eine Art Zentralheizung in Gang gehalten, und dort bekomme ich von der Zugbegleiterin kochendes Wasser, um mir Nescafé oder Tee zu machen. Ich erschrecke, als punkt sechs Uhr aus verstaubten Lautsprechern blechern ein Marsch geblasen wird: Die Ukrainische Hymne.

Alle Reisenden haben Decken und Bettzeug bekommen. Ich schlafe eine Weile. Wieder munter trinke ich ein Bier. Draußen sehe ich grobe Wiesen, getrocknetes Gras, sanft gehügelte Ebene. Sandiger Boden, Feldwege. Auf dem Sand wachsen Nadelbäume. Auf der schwarzen Erde wachsen Laubbäume.
Um die Stationsgebäude laufen alte Frauen mit Taschen. Sie verkaufen Proviant: Teigtäschchen, Kuchen und Sonnenblumenkerne. Getränke. Hunde stöbern in Müllhaufen. Zwischen den Ortschaften und Städten oft einfach Landschaft. Viele Sandstraßen. Die Welt scheint größer zu werden, auch der Fluß Dnepr beeindruckt durch die Dauer der Fahrt des Zuges über eine Brücke in der großen Stadt Kiew. Obwohl ich in der Ukraine bin, denke ich an Texte von Tolstoj.
Im Waggon macht sich Familienleben breit. Kinder werden gefüttert und zu Bett gebracht. Unbekannte Speisen werden hervorgeholt, Bier und Vodka und Tee getrunken.
In diesem Land kann ich mir vorstellen zu verschwinden. Die Endlosigkeit vor Augen: Woran kann ich mich festhalten? Eine Abwechslung von Land und kleineren Städten, niedrige Bahnhofsgebäude, lockerer Wald, Gebüsch, verbranntes Gras, vom Herbst niedergedrückt, in den verschiedenen Tönen von Ocker, lange Zäune aus Holzstangen, Sandstraßen, an denen irgendwann ein weißgetünchtes Haus steht. In manchen Stationen steige ich kurz aus oder halte zumindest meinen Kopf aus der offenen Zugtür. Die Luft ist leichter, das Licht blaukalt klar und unterstützt ein Gefühl der Weite.

Vlodimir arbeitet in einem Transportunternehmen. Dort füllt er Treibstoff in seinen PKW, ohne etwas zu bezahlen. Wir verlassen Poltava, eine Stadt, deren Gebiet wohl wegen eines relativ hohen Hügels in der flachen Landschaft schon von den Skythen besiedelt worden war.
Wir fahren eine Stunde in das flache Land hinein. Das Lenkrad bewegt Vlodimir bald sehr selten: Schnurgerade geht es auf der breiten Straße durch mit Gebüsch oder Wald bewachsenes Gelände, die Lastkraftwagen mächtige graue Gestalten. Etwas von der Autostraße entfernt, über schmale Zubringer erreichbar, erstrecken sich Dörfer, Wegen entlang, die zuerst zwischen Feldern, die Pappeln säumen, verlaufen und sich dann im Nichts verlieren. Irgendwo biegen wir auf eine Schotterstrasse ab.

Das Haus der Heilerin Anna Iwanovna liegt am Rande des Dorfes: Es ist niedrig, mit Schindeln gedeckt. Hinter einem Maschenzaun Hühner und Enten. Vier Ziegen warten angepflockt. Eine Nachbarin treibt sie mit einer Rute in der Hand den Grasstreifen die Straße entlang. Ein Ziehbrunnen wie aus dem Märchenbuch. Die alte Frau begrüßt uns, sie ist auf die Heilung von Knochen und Gelenken spezialisiert. In dem Vorraum zur Küche Säcke mit Körnern, getrocknete Kräuter hängen büschelweise verstaubt von der Decke. Auf einem kleinen Tischchen ist Platz, um die Geschenke für die Heilerin zu hinterlegen. Wir sind sehr früh da, Anna Iwanowa macht Kräutertee. In der Küche ein Holzofen neben dem Gasofen und im Wohnzimmer Teppiche auf dem Boden und über die Bettbank gebreitet..
An den Wänden hängen Ikonen verschiedener Größen. Anna Iwanowna bindet sich ein weiße Kopftuch um und zündet Kerzen an. Ich lege mich auf den Boden. Ich spüre, wie die starken, runden Finger der alten Frau mein Rückgrat abtasten. Sie beginnt zu singen. Ich verstehe, dass es sich um orthodoxe Kirchenlieder handelt, Jeschisch Hallleluja, sie singt eine einfache eintönige Melodie, die unvorhersehbar in lautes fast Geschrieenes ausbricht. Ich atme den Geruch des Handtuchs ein, auf dem mein Kopf liegt, und ich sehe in der Küche draußen Licht, das durch ein kleines Fenster auf den Holzboden trifft. Iwanownas Druck an einer Stelle mit einem Mal ein kräftiger Schlag, der mich in den Waggon eines Zuges wirft. Ich sitze da auf meinem Bett (draußen ein Sandboden, eine weite weite Himmelskuppel direkt hinauf ins All), Leute, die ich allesamt kenne, sitzen in dem Waggon, die ukrainischen Freunde, die mit mir anlässlich des orthodoxen Osterfestes in Prag Vodka getrunken haben, bis der klare messerscharfe Rausch fast die Besinnung raubt, die Prager Freunde, die Wiener, die sich über das verdreckte Klo im ukrainischen Zug aufregen.
Ich war nie ein Mensch, dem geordnete Bahnen gelungen sind, zum Glück vielleicht, denn meine Kinder sind das Ergebnis der Unvernuft. Die Mütter meiner Kinder ziehen es vor, in anderen Abteilen zu reisen, doch können wir uns sehen, denn zum Mittelgang des Waggons hin gibt es keine Wände in dem Zug. So vermischen sich die Gespräche und Sprachen. Aurea, die große Tochter, erlebte das Hin- und Her zwischen Wien und Prag und Wien am eigenen Leibe mit, ihr Zuhausesein in zwei Städten ist ihr eine Selbstverständlichkeit gewesen. Emilie, die kleine, hat in Poltava eine Großmutter.
Tatsächlich haben meine Töchter und ich den Fall des Eisernen Vorhangs am eigenen Leib gespürt.

Ungehalten darüber, so spät noch gestört zu werden, ging Karl P zur Wohnungstür, um sie zu öffnen. Er blickte in die blauen Augen einer Frau. Hinter der Frau, die gerade eine Reisetasche aus Kunstleder abstellte, stand der Hausbesitzer, der gegenüber wohnte.
In diesem Moment bereute es P, sich jemals so sehr mit dem Hausbesitzer bekannt gemacht zu haben, dass dieser es wagte, ihn um diese Uhrzeit zu stören, noch dazu mit einem Wunsch, dessen Tragweite P nun berechtigterweise zu fürchten begann. Der massige Hausbesitzer stülpte seine Lippen vor, er hatte ein Gesicht wie ein Barockengel. Er deutete auf die Frau. „Das ist Swetlana. Sie ist gerade aus der Ukraine gekommen.“
P versuchte, nicht in die blauen Augen zu sehen, hatte plötzlich die Figur der Frau im Blick, ihren kopflosen Körper, der in einem Wintermantel steckte, kräftig wirkte, breite Schultern, schlanke Beine, wie zumindest die Form der Waden vermuten ließ, und ihr Busen wölbte sich ordentlich. Sie ist müde, die arme Frau, ich Schuft, dachte P, fand aber seine Aufmerksamkeit durch die Ausführungen des Hausbesitzers von diesem Mitgefühl mit der Ukrainerin abgelenkt.
Der Hausbesitzer vermietete jeden möglichen Quadratmeter seiner Villa an ukrainische Gastarbeiter, die Prag dem Eingeweihten ein Österreichern unbekanntes und von Touristen unbemerktes Flair verliehen, so um die hunderttausend ukrainische Gastarbeiter arbeiteten schwarz in der Tschechischen Republik, hatte eine Zeitung geschrieben. Sie arbeiteten sehr billig. Die sowjetischen Truppen hatten die Tschechoslowakei jahrzehntelang besetzt, und nun fühlten sich die Tschechen gut, wenn sie Ukrainer ausbeuten und demütigen konnten, denn auch sie, die ukrainischen Männer, waren Soldaten in der Sowjetarmee gewesen. Die Prager kosteten ihre Rache mit Gewinn und Genuss aus. Die Fräuleins trugen die Nasen hoch, wenn sie schwitzenden halbnackten ukrainischen Straßenarbeitern zusahen. Die Büros putzten ukrainische Frauen , die tschechischen Chefs beäugten ungeniert ihre Hintern. P war sich sicher, dass er, der Kunsterzieher des Österreichischen Gymnasiums in Prag, als einziger Lehrer dort ein Dach mit ukrainischen Schwarzarbeitern teilte, doch in seiner Wohnung wollte er sie nicht haben. Die blauen Augen sahen ihn an.
„Swetlana wird bei dir wohnen und als Miete den Haushalt führen,“ sagte der Hausbesitzer.
„Das ist unmöglich, ich habe dir gesagt, dass ich nicht meine Haushälterin bei mir wohnen haben möchte, es würde meine Intimsphäre stören.“
Der Hausbesitzer sagte, dass es schneie.
„Es ist einundzwanzig Uhr, dunkel, Wind pfeift und ich habe nicht ein einziges Bett frei. Du hast in deinem Arbeitszimmer eine Couch. Soll ich Swetlana bei diesem Wetter, ohne eine einzige Krone in der Tasche, hier, am Stadtrand in den Schneesturm hinaus schicken?“
„Ich habe keine zweite Decke,“ log P.
„Das organisiere ich,“ rief der Hausbesitzer und verschwand in seiner Wohnung. P gab die Türe frei. Sein amerikanischer Krimi, den er in Originalsprache las, lag auf dem Wohnzimmertisch. Swetlana stellte die Reisetasche jetzt auf der anderen Seite der Wohnungstür ab. Sie blieb unschlüssig stehen. Sie trug eine rote Wollhaube, die ihre Haare niederdrückte. Ihre Wangen leuchteten rot, sie war ja gerade aus der Kälte gekommen. P sprach tschechisch und fragte sie in dieser Sprache, ob sie Tee trinken wollte. „Ja bitte, Herr Karl.“

Ob sie Herrn Karl etwas fragen dürfe.
P bat sie, ihn nicht H e r r Karl zu nennen.
„Ich will es versuchen, aber, Herr Karl, haben Sie einen Wecker?“
„Ja. Wollen Sie einen Tee oder einen Kaffee trinken? Und ich befehle Ihnen, mich P zu nennen.“
Er wolle ihr nicht versprechen, dass sie länger als die nächsten paar Tage bei ihm hier wohnen könne.
„Der Hausbesitzer sagte mir, sie suchten eine Haushälterin. Gefalle ich Ihnen so überhaupt nicht?“
P sah sie an. Sie saß ihm gegenüber, hielt ihre Teetasse umfasst. Ihre Finger schimmerten rötlich. Obwohl es warm in Ps Prager Künstlerbude war, hatte er das Gefühl, sie wollte sich ihre Hände wärmen.
„Das war eine Lüge. Ich habe den Hausbesitzer ganz im Gegenteil darauf hingewiesen, dass ich nie und nimmer eine Haushälterin bei mir wohnen haben will. Dazu ist meine Wohnung ja auch viel zu klein. Der Hausbesitzer ist ein Schuft. Er beschwindelt Sie und bringt mich in eine peinliche Situation. Ich bin Junggeselle und …“
„Aber es würde mich ja überhaupt nicht stören, wenn Sie Damen empfangen. Bedenken Sie die praktischen Vorteile, die eine Haushälterin hat. Ich erledige Ihre Wäsche, Sie bekommen jeden Tag ein Essen, müssen nicht mehr in die teuren Gasthäuser gehen und so weiter.“
P wusste nicht, ob Swetlana ernst meinte, was sie sagte, oder einen Witz auf seine Kosten machen wollte.
P dachte, dass die Gasthäuser in Prag verglichen mit Wiener Gasthäusern sehr wenig Geld für ihre Speisen verlangten und dass er das Swetlana in Kürze jetzt nicht alles erklären könne und sagte, dass es ihm in Gasthäusern gefiele.
Sie schwiegen.
Er fragte, woher sie komme.
Swetlana sprach ein holpriges Tschechisch. Er hörte den russischen Akzent. P erfuhr, dass sie in Poltava Lehrerin für Handarbeit gewesen war. Er holte seinen alten Schulatlas hervor. Die Sowjetunion. Swetlanas Fingerspitze fuhr auf der Karte von Kiew weit nach rechts, nach Osten, bis nach Charkov. Dort bewegte sie sie etwas nach Süden. Da stand es. Poltava. Auf der Karte ein kleines Stück von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt, eine mittelgroße Stadt.
Swetlana hatte eine Reise von achtundvierzig Stunden hinter sich. Sie holte ihren Waschbeutel hervor, ging in das Badezimmer um sich sich die Zähne zu putzen.
Er holte ein Handtuch aus dem Kasten.
Sie musste um halb sechs aufstehen. Er stellte ihr den Wecker. Sie arbeite in einem Hotel, dort bekäme sie 35 Kronen in der Stunde. P wusste, dass der Tschechische Stundenlohn für Putzfrauen bei siebzig Kronen lag. „Der Hotelbesitzer bezahlt auch siebzig Kronen. Doch mein Manager bekommt die Hälfte. Er hat für mich die Arbeit organisiert. Das ist so üblich. Fast alle Ukrainer, die hier arbeiten, haben einen Manager.“
Er stellte neben das Kanapee einen Sessel und den Wecker darauf. Während P Bettwäsche holte, öffnete sie ihren Koffer. Sie fand rasch, was sie suchte: eine kleine Ikone, einen Christus, den sie neben den Wecker stellte und eine Bienenwachskerze.

In der dritten Nacht Swetlanas Anwesenheit kniete P vor ihrem Bett.
„Swetlana, ich kann nicht schlafen. Seitdem du hier angekommen bist, liege ich jede Nacht stundenlang im Bett ohne einzuschlafen.“
„Ja, aber ich bin die dumme ukrainische Putzfrau und du bist der Boss hier. Ich glaube, dass es so bleiben sollte.“
„Bitte mach dich doch nicht lustig über mich. Ich glaube, wir könnten uns… ganz gut lieben.“
Swetlana setzte sich auf.
„Aber ich liebe dich nicht.“
„Wir könnten trotzdem miteinander schlafen. Nur unsere Körper, gewissermaßen.“
„Gute Nacht, P.“
Swetlana legte sich hin und drehte ihr Gesicht zur Wand. P kehrte traurig in sein Bett zurück, schlief aber gut.

Swetlanas verhalten veränderte sich. P rauchte – Zigaretten, trank gerne ein paar Bier. Darauf begann sie zu reagieren. Als sie P einmal mit einem Joint antraf, reagierte sie wütend und bezeichnete ihn als Junkie. Und wie viele Zigaretten er jeden Tag rauchte. P bemerkte dieses Interesse an seiner Gesundheit. Zumeist zu Hause arbeitend gewöhnte er sich daran, dass Swetlana regelmäßig um halb sieben Uhr abends kam und zu kochen begann. Um halb zehn Uihr pflegte Swetlana ins Bett zu gehen. Sie verabschiedete sich freundlich aus den Gesprächen über Filme, Bücher oder Freunde, Kollegen, den Problemen der Ukrainer mit den tschechischen Behörden. Sie ging ins Bad, putzte sich die Zähne. Sie duschte im Hotel. Sie schloss die Tür zum Arbeitszimmer. Leise hörte P sie beten.

Ein paar Wochen später kam P sehr betrunken nach Hause. Er warf Swetlana hinaus, sofern sie nicht seine Freundin werden wollte. Er erinnerte sie eindringlich an die langen, interessanten Gespräche, die sie fast jeden Abend führten und er gab ihr drei Wochen Zeit, sich etwas anderes zu finden.
Am folgenden Abend, an dem sich P dann besonders um Swetlana bemühte, läutete das Telefon.
Olga, eine alte Freundin aus Wien wollte ein paar Tage in Prag verbringen und P sagte, dass sei gar kein Problem, sie solle nur kommen.
„Wer war das?“, fragte Swetlana.
„Olga. Eine alte Bekannte aus Wien. Sie wird hier ein paar Nächte verbringen. Es wird sehr komisch für mich werden, deine Anwesenheit hier zu erklären. Du bist nicht meine Freundin, wir haben keine Beziehung. Olga wird denken, ich halte mir hier eine Dienerin. Das ist mir unangenehm.“
„Ich kann mir für die paar Tage etwas anderes suchen.“
„Ich weiß nicht. Ich möchte, dass du Olga kennen lernst. Schließlich sind wir ja Freunde geworden, oder? Weißt du, ich mag dich.“
„Vielleicht…könnten wir eine Komödie spielen… für die paar Nächte. „
„Was? Ich glaube, das ist gar nicht notwendig. Wir haben dein Bett, mein Bett, das kleine Kanapee…andererseits seiht das wirklich dumm aus für mich, einfach so mit meiner Putzfrau zusammen zu leben.“
„Ich will dir keine Probleme machen.“
„Willst du diese Komödie wirklich spielen?“
„Ja“
„Das ist sehr ..nett von dir.“

Nach Olgas Abreise spielten sie diese Komödie weiter. Swetlana genoss es, zu schmusen. Mehr ließ sie über zwei Wochen nicht zu. Fast hatte sich P daran gewöhnt, mit wildem Geschmuse zufrieden zu sein, als eines Nachts Swetlana sagte:
„Heute. Bitte. Schlaf mit mir.“
Ps Penis erschlaffte.
„Ich weiß nicht…“
„Oder willst du nicht, weil ich bloß die dumme ukrainische Putzfrau bin?“
„Bitte sag nicht so einen Unsinn.“
„Also, was ist los?“
„Ich glaube, heute kann ich nicht.“
„Warum? Versuch es doch. Es ist nur der Körper.“
„Das wird das Problem sein,“ sagte P.
Swetlana verließ Ps Bett.

Als P am nächsten Morgen Swetlana an der Wohnungstür einen Abschiedskuss geben wollte, gab sie ihm einen kräftige Ohrfeige.
Am selben Abend eröffnete sie ihm, dass sie eine Wohnung gefunden hatte und packte sofort ihre Sachen.
Die nächste Zeit packte P immer um halb sieben eine starke Melancholie.

Als P es nicht mehr aushielt, rief er in dem Hotel an, wo Swetlana arbeitete. Er lud sie ein. Sie sagte rasch zu.
Da saßen sie wieder. P hatte gekocht, und Swetlana sagte, dass sie nur aus Höflichkeit esse. P wollte wissen, warum sie ihn damals geohrfeigt habe.
„Du hast meine Gedanken gelesen. Ich wollte damals ein einziges Mal mit dir schlafen, und dann fort gehen. Auf nie mehr Wiedersehen verschwinden. Und du hast meinen Plan durchkreuzt. Das ist unverzeihlich.“

P und Swetlana sahen sich oft. Sie trafen sich, verbrachten den Abend gemeinsam und dann ging jeder in sein Zuhause.
„Ich vermisse es, mit dir zu streiten, du bist zu freundlich in letzter Zeit,“ sagte Swetlana eines abends.
„Ich vermisse anderes mehr.“
„Was, zum Beispiel?“
P zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht könnten wir es wiederholen, einmal,“
„Wann denn? Ich meine, für mich ist das kein Problem, eine Zeit lang zu warten, wenn ich eine Frau wirklich gern habe. Ich bin nicht so ein Tier.“
„Wie lange könntest du denn warten?“
„Ein halbes Jahr vielleicht…“
„Welches Datum haben wir heute?“
„Den 16. November, glaube ich.“
„Am 16. Mai nächsten Jahres verbringe ich die Nacht bei dir.“
„Was?“
„Ja. Der 16. Mai gehört dir. Das ist ein Dienstag,“ sagte Swetlana und steckte den Kalender weg.

Ganz hielten sie diese Frist nicht ein.

Sie respektierte Ps Besitz. Nur auf dem Kanapee lag ihr Bettzeug, und zwei Bienenwachskerzen standen links und rechts von der Ikone. Zwei kitschige Engel, die sie wo ausgeschnitten hatte, klebten auf dem armseligen dunkelgrünen Einband des Gebetstuches und schmückten es.
Pilaf war eine Art von Reisfleisch. P sah Hühnerteile und ungeschälte Knoblauchzehen, Karotten und geviertelte Zwiebel in einem Haufen rundkörnigen Reis auf seinem Teller liegen. Die Hitze und der Duft der Speise eroberten Ps Klein-, Zwischen- und Stammhirn. Sein ganzer Organismus bereitete sich auf die Einnahme von Swetlana mit zumindest Sympathie gekochten Eintopfes vor. Sie nahm die Ketchupflasche, zeichnete rote Linien über den Reisberg und platzierte einen Löffel Rahm daneben. P aß Ketchup gerne. Er mochte Mayonnaise, alle Arten von Senf, am liebsten aber den Kremser. Wer in Wien Ketchup aß, galt als Barbar oder Amerikaner. In Prag störte das niemanden, auch die Köchinnen nicht, wenn jemand mit Ketchup „nachwürzte“. Oft hatte sich P in Wien gezwungen gesehen, nur aus Höflichkeit kein Ketchup zu verlangen. Swetlana kam aus der Ostukraine, verhielt sich aber wie eine Tschechin, zumindest was die Verwendung von Ketchup betraf. Pilaf hatte P in Prag noch nicht gesehen, auch Reisfleisch war in Prag nicht so bekannt, das aßen die Wiener öfter. P bemerkte, dass ihm Swetlana wohlmeinend zusah, wie er mit Appetit aß.
Swetlana sagte: „Ich war noch nie in einem Gasthaus essen.“
P dachte, dass sie etwa fünfundzwanzig Jahre alt sei. Er dachte einen Moment nach. Vielleicht hatte er sie schlecht verstanden. „Du hast noch nie in einem Restaurant gegessen?“ „Nein. In der Ukraine können sich das nur Mafiosi leisten. Ich war mit der Mutter Sonntag Nachmittag manchmal in einer Konditorei. Wir haben russisches Eis gegessen. Das alles aber war vor der letzten Revolution.“
P sah sie an.
„Wir leben ganz normal. Meine Familie ist arm.“

Nach der fast schlaflosen Nacht hörte P Swetlana die Wohnung verlassen. Er wartete eine Weile und huschte dann in sein Arbeitszimmer.
Er bemerkte die Pyjamahose, deren Beine unter der sauber gefalteten Bettdecke hervorlugten. P ging leise zu dem Kanappee, kniete sich davor nieder und roch am Kopfpolster. Er sah ein brünettes Haar. Er stieß an den Sessel, auf dem die Ikone und zwei dünne Bienenwachskerzen standen, und eine dieser Kerzen fiel um. In seiner Nase immer noch den angenehmen Geruch der Frau (Weihrauch und Haut, ein unergründliches Geheimnis) erschrak er und steckte die Kerze in ihren Leuchter zurück. Die Ikone in der Größe einer Postkarte zeigte Christus den Weltenherrscher. Fast wollte sich P entschuldigen, ihn gestört zu haben. Swetlana wusste, dass dieser Raum sein Arbeitszimmer war. Sie musste damit rechnen, dass er sich hier aufhielt und er nahm die Bettdecke, legte sie sich über seinen Kopf, und roch. Er bekam eine Ahnung, wie es wäre, wenn er sie umarmte. Er dachte, dass sie, wenn überhaupt, nur als seine Lebensgefährtin, als seine Freundin, Partnerin, einfach Frau, hier bleiben könnte. Er dachte daran, was alles er dem Hausbesitzer sagen wollte, denn der war Schuld daran, dass diese Ostukrainerin auf einmal eine Rolle in seinem Leben spielte.

Swetlana war äußerst geschickt darin, sich einen Sonnenblumenkern zwischen die Zähne zu stecken und in sekundenschnelle dann die Schale auszuspucken. Sie nahm die kerne aus einer Tüte in den Mund und spuckte die Schalen in eine andere Tüte, sie knallten auf das Papier. Wenn sie währenddessen sprach, so hörte man kaum, dass ihr Mund eine Nebenbeschäftigung hatte.